Männlich, weiblich, divers – und nun?
Das Tanzstück THE 3RD BOX wollte Möglichkeiten erforschen
Jugendliche und junge Erwachsene – divers in Alter, kulturellem Hintergrund, sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität – stellten sich im Projekt THE 3RD BOX die Frage: Wie offen ist unsere Gesellschaft im Jahr 2020? Nach DIE KRONE AN MEINER WAND und GRENZLAND sollte THE 3RD BOX eine neues partizipatives Tanzproduktion der Choreografen Monica Gillette und Gary Joplin sein, in dem die Ensemblemitglieder Visionen zu den Themen Geschlechtsidentität und Queerness entwickeln.
Kit ist Teil dieses Ensembles, 24 Jahre alt und studiert Englische Kulturwissenschaft an der Uni Freiburg. Luk ist 20 Jahre alt und arbeitet derzeit daran, als freischaffender Künstler Fuß zu fassen. Dramaturg Michael Kaiser traf die beiden sechs Wochen vor der geplanten Premiere im April 2020 zum Gespräch – vierzehn Tage bevor die Proben aufgrund der Corona-Pandemie beendet werden mussten. Rund drei Monate später befragt Kaiser einen der beiden Choreografen im Video-Interview, wie es nach dem Lockdown des Theaters mit dem Projekt weiterging und wie der aktuelle Stand ist.
MICHAEL:
Was habt ihr gemacht, bevor ihr im Theater Freiburg bei unserem Tanzprojekt gelandet seid?
LUK:
Ich bin in Freiburg geboren, habe aber fast mein ganzes Leben in der Schweiz verbracht. Dort bin ich in ländlichen Regionen aufgewachsen und war in dem kleinen 400-Seelen-Kaff immer der Außenseiter und Paradiesvogel. Als ich 14 Jahre alt war, überredete mich meine Mutter dazu, Theater zu spielen. Erst kam das für mich gar nicht in die Tüte, da ich damals nicht viel von mir gehalten habe. Das Theater hat mir aber richtig gutgetan. Das war ein Rahmen, in dem ich sein konnte, wie ich bin – und darüber hinaus. Für mich war es die erste bunte Welt, die ich erleben durfte. Irgendwann war ich dann felsenfest davon überzeugt, dass ich Schauspieler werden sollte, einen Plan, den ich zwischenzeitlich aber auf Eis gelegt habe.
KIT:
Ich bin in der Bodenseeregion ebenfalls in einem Dorf aufgewachsen. In diesem ländlichen Umfeld habe auch ich mich immer sehr anders gefühlt. Es ist nicht so, dass ich aktiv ausgegrenzt wurde, hatte aber den Eindruck, einen Teil von mir verstecken oder hintenanstellen zu müssen. Denn in meinem Dorf gab es keine anderen Personen, die queer, lesbisch, schwul oder trans waren. Ich selbst identifiziere mich übrigens als queer und nicht-binär.
MICHAEL:
Der Begriff „nicht-binär“ oder „non-binary“ ist wahrscheinlich außerhalb der LSBTTIQ*-Szene nicht allen bekannt. Wie würdest du ihn aus deiner Perspektive definieren?
KIT:
Ich versuche, das immer anhand eines Beispiels zu erklären. Irgendwann wurde beschlossen, die Wochentage Montag, Dienstag, Mittwoch usw. zu nennen und zu definieren, dass die Woche mit Montag beginnt und mit Sonntag endet. Wir benutzen alle dieses Modell, finden es wahrscheinlich für unseren Alltag nützlich und hinterfragen es nicht. Aber es ist ein von Menschen gemachtes, beliebiges Konstrukt, das nicht in Stein gemeißelt ist.
Wenn man nun zwei Menschen vermeintlich gleichen Geschlechts nebeneinanderstellt, wird man feststellen, dass beide einen anderen Charakter, unterschiedliche körperliche Merkmale etc. aufweisen. Anhand dieser Merkmale, die vielleicht ungefähr ähnlich sind, treffen wir dann die Zuschreibung „Mann“ oder „Frau“ – weil wir eben nur diese beiden Gruppen haben. Dieses binäre System ist ein Hilfskonstrukt, damit wir Menschen ungefähr einordnen können. Das entspricht aber nicht der Wahrheit, denn Geschlecht ist um einiges vielfältiger als „Mann“ und „Frau“.
MICHAEL:
Luk, du hast erzählt, dass du bei dir auf dem Dorf ein Paradiesvogel warst. Wie hat das ländliche Umfeld darauf reagiert?
LUK:
Ich habe zunächst lange versucht, mich anzupassen. Das hat aber einfach nur sehr wehgetan und war meiner Meinung nach auch ziemlich erfolglos. Durch das Theaterspielen habe ich das Selbstvertrauen entwickelt, mein Ding durchzuziehen und der zu sein, der ich wirklich sein will. Man kann sich das so vorstellen: Ich war damals das Berliner Fashion-Opfer mit den blondiertesten Haaren von allen im 400-Einwohner-Dorf und damit bin ich schnell angeeckt. Da sind einige unschöne Dinge passiert. Einmal saß ich im Zug, als jemand von außen an die Scheibe gespuckt hat, und ein anderes Mal hat mir ein Fremder grundlos beim Einkaufen in die Fresse geschlagen. Das geht natürlich nicht spurlos an einem vorbei. Ich persönlich hatte deshalb einige Krisen, bin aber wie Phönix aus der Asche gestärkt daraus hervorgegangen.
MICHAEL:
Wie seid ihr dazu gekommen, bei THE 3RD BOX mitzumachen?
LUK:
Ich habe von Freunden aus der LSBTTIQ*-Community davon gehört, die in der Vergangenheit im Jungen Theater Freiburg mitgewirkt hatten. Eigentlich hatte ich für mich mit dem Theaterthema abgeschlossen, aber aufgrund der Erfahrungen mit dem Tanzprojekt kann ich mir jetzt sogar wieder vorstellen, mich beruflich in diese Richtung zu orientieren. Inhaltlich war es für mich am Anfang gar nicht so einfach, weil ich mich mit den Themen, zu denen wir in den Proben arbeiten, lange Zeit gar nicht so wirklich beschäftigt hatte. Der erste Workshop hat mich dann richtig heftig in die Zeit zurückgeworfen, in der es mir noch wehgetan hat, wenn jemand zu mir gesagt hat, dass ich schwul oder dass ich doch mehr ein Mädchen als ein Junge sei. Ich denke, es ist wichtig, dass man sich alle paar Jahre einmal mit dem Weg beschäftigt, der hinter einem liegt, auch wenn das schmerzhaft ist. Jetzt kann ich die Proben umso mehr genießen.
KIT:
Ich habe bisher wenig Erfahrung mit Theater und Tanz, hatte aber Lust, es einmal auszuprobieren. An der Projektausschreibung hat mich angesprochen, dass sie sich explizit an nicht-binäre Personen gerichtet hat, was nicht oft der Fall ist. Bei den ersten Proben hat mich überrascht, wie viel das Körperliche und die Selbstwahrnehmung beim Tanzen mit dem Thema „Geschlecht“ zu tun haben. Ich habe schnell gemerkt, dass es Blockaden in meinem Körper gibt, die damit zu tun haben, dass ich mich sonst auf eine bestimmte Art nicht bewegen will, da ich dadurch anders wahrgenommen werden könnte.
MICHAEL:
Auf der Bühne ist das anders?
KIT:
Als Transperson denkt man viel darüber nach, wie man gesehen wird, wie man sich bewegt und was man ausstrahlt. Auf der Bühne habe ich den Rückhalt der Performance, in der ich den Choreografien folge. Dabei kann ich Kontrolle abgeben und muss – anders als im Alltag – nicht ausloten, was bestimmte Bewegungen über mich erzählen.
LUK:
Zum Thema „Geschlecht“ habe ich mir vor THE 3RD BOX nur selten Gedanken gemacht. Wenn mich jemand nach meinem Geschlecht gefragt hat, habe ich immer ganz selbstverständlich geantwortet, dass ich ein Mann sei. Im Zuge das Projekts habe ich mir dann aber schon die Frage gestellt, wie das bei mir aussieht. Ich bin dann aber zu dem Ergebnis gekommen, dass ich total gerne ein Mann bin – aber eben nur dann, wenn ich die Freiheit habe, so „Mann“ sein zu können, wie ich das möchte.
MICHAEL:
Welche Menschen sind bei dieser Produktion eigentlich zusammengekommen?
LUK:
Da sind zum einen Leute, die sich schon sehr lange mit den Themen des Stücks beschäftigen. Menschen, die beispielsweise als Frau geboren wurden, sich heute jedoch als Mann betrachten. Es gibt aber auch Ensemblemitglieder, die das Thema interessiert, die selbst jedoch nicht queer oder trans sind. Zusammengekommen ist auf jeden Fall eine Gruppe, die komplett bunt ist. Zusammen verfolgen wir mit diesem Projekt ein großes Ziel. Daneben haben aber alle noch ihr eigenes, kleines Ziel.
MICHAEL:
Was ist denn das große Ziel – und was dein persönliches?
LUK:
Ich würde sagen, es geht uns allen um Freiheit. Darum, immer die Freiheit zu haben, die Person zu sein, die man sein will – und dafür nicht verurteilt zu werden. Mein kleines Ziel ist, voranzukommen und die Grenzen in meinem Leben weiter zu sprengen. Ich will beispielsweise nicht mehr so oft zweifeln, wenn ich merke, dass ich in den Augen anderer zu feminin wirke. Vor allem aber will ich nicht die eine dritte Box, sondern Böxchen für alle, für jede einzelne Person! Böxchen, die der Vielfalt aller Menschen und ihrer Lebenskonzepte gerecht werden.
MICHAEL:
Wie entwickeln Monica und Gary das Stück mit euch?
KIT:
Die Proben laufen so ab, dass wir Übungen machen, die dazu dienen, sich der eigenen Körperlichkeit bewusster zu werden. Wir arbeiten sehr viel mit Wahrnehmung und erkunden, wie sich der eigene Körper anfühlt und wie er sich bewegt. Das führen wir weiter, entwickeln – alleine, zu zweit oder mit der ganzen Gruppe – kleinere Choreografie- Einheiten, erweitern diese Stück für Stück und vergrößern so das Bewegungsrepertoire für unsere Inszenierung. Überraschend fand ich zu Beginn, dass wir von Gary und Monica öfters Schreibaufgaben bekamen. Diese Texte sollen auch in den Abend einfließen. Ich würde das Ganze als sehr kooperativen Prozess beschreiben, in dem wir das Stück zusammen mit den Choreografen als Gruppe gestalten.
LUK:
Spannend ist, dass wir unsere Themen auch ohne Sprache verhandeln und über die körperliche Auseinandersetzung mehr als mit Worten ausdrücken können. Du musst auch unbedingt schreiben, dass Gary und Monica toll sind! (lacht) Für mich sind die beiden zu Vorbildern geworden: Sie wissen auch nicht alles zu den Themen Geschlecht, Identität und Sexualität und machen im Prozess auch Fehler im Umgang damit – aber sie haben extrem offene Augen und Ohren und begegnen allem, was während der Proben auftaucht, komplett unvoreingenommen und ohne darüber zu richten.
MICHAEL:
Luk hat vorhin bereits über „Böxchen“ gesprochen. Wir haben das Stück ja THE 3RD BOX genannt, da dieser Titel auf die dritte Geschlechtsoption in offiziellen Dokumenten referiert, die es seit 2019 gibt. Wie stehst du als Transperson zu diesem „dritten Kästchen“, Kit?
KIT:
Der Geschlechtseintrag „divers“ ist in der Trans-Community sehr umstritten, auch wenn er von den meisten als großer Schritt in die richtige Richtung betrachtet wird. Dennoch ist dabei viel schiefgegangen. Am Ende wurden viele Entscheidungen über die Köpfe der Menschen hinweg getroffen, die sich dafür eingesetzt haben.
MICHAEL:
Was hat das zur Folge?
KIT:
Dieser Eintrag richtet sich explizit an intergeschlechtliche oder intersexuelle Menschen. Er hat nichts mit Nicht-Binarität zu tun, wie sie in unserer Community verstanden wird. Um diesen Eintrag zu bekommen, benötigt man beispielsweise ein Gutachten vom Arzt, das bestätigt, dass eine sog. „Variante der Geschlechtsentwicklung“ vorliegt. Es findet also eine Form von Pathologisierung statt: Man muss einen Mediziner oder eine Medizinerin davon überzeugen, dass man nicht- binär ist. Mein Traum wäre es, dass man diese Entscheidung selbstbestimmt treffen kann und dabei nicht von externen Begutachtungen und Einschätzungen abhängig ist. Nicht-Binarität würde damit auch nicht mehr als mentale Krankheit betrachtet werden.
MICHAEL:
Steht in deinem Ausweis eigentlich dein Geburtsname oder Kit?
KIT:
Ich habe meinen Namen und Geschlechtseintrag bisher noch nicht geändert. Mir persönlich wäre es am liebsten, wenn es im Reisepass gar keinen Geschlechtseintrag geben würde. Ich finde, dass dieser Eintrag eine Information beinhaltet, die unnötig ist. Nur, weil dort „Mann“ oder „Frau“ angegeben wird, erhält man ja keine aussagekräftige Kennzeichnung der betreffenden Person. Anders als die Größe, die Augenfarbe oder der Wohnort sagt diese Information wenig über Menschen aus. Vor dem Gesetz sollten Männer und Frauen so oder so gleich sein. Wieso also sollte man sie an dieser Stelle nach Geschlecht aufteilen?
MICHAEL:
Und wie ist es für dich, wenn du deinen Personalausweis vorzeigen musst?
KIT:
Ich habe eine Alternative, denn die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. gibt einen Ergänzungsausweis heraus, den man frei und ohne ärztliche Atteste beantragen kann. Dieser Ausweis enthält alle selbstgewählten personenbezogenen Daten sowie ein aktuelles Passfoto. Man kann seinen selbstgewählten Vornamen sowie das passende Pronomen und Geschlecht eintragen lassen, wenn man möchte. Dieser Ergänzungsausweis wird an vielen Stellen anerkannt und ist für mich eine Riesenhilfe im Alltag. Idealerweise sollte ein Dokument wie dieses natürlich offiziell bezogen werden können – und nicht über einen Verein ausgegeben werden müssen, in dem Ehrenamtliche tätig sind.
MICHAEL:
In rund sechs Wochen ist Premiere. Luk, was erwartet uns am 18. April im Werkraum – welches Stück bekommen wir zu sehen?
LUK:
Das ist tatsächlich momentan auch noch meine größte Frage! (lacht) Bei den anderen Theaterstücken, in denen ich mitgewirkt habe, gab es immer ein fixes Skript und eine feste Rollenverteilung. Das ist bei uns alles anders. Auf jeden Fall werden wir da sein, wir werden uns bewegen und wir werden die intensiven Prozesse, die wir über den Zeitraum von vier Monaten erlebt haben, tänzerisch auf die Bühne bringen. Es wird auf jeden Fall ein Stück, in dem es einen Austausch zwischen den Menschen auf der Bühne und denen im Zuschauerraum geben wird. Das Stück wird viele Fragen aufwerfen, Fragen, mit denen das Publikum vielleicht noch nie zu tun hatte – und ich hoffe, dass die Leute daran ein Weilchen zu knabbern haben!
THE 3RD BOX
MÄNNLICH, WEIBLICH, DIVERS – UND NUN?
EIN TANZSTÜCK ÜBER MÖGLICHKEITEN
Regie und Choreografie Monica Gillette, Gary Joplin // Bühne und Kostüme Charlotte Morache // Musik Sora Sam // Dramaturgie Michael Kaiser
Illustration Michael Genter
Kooperation mit dem UWC Robert Bosch College Freiburg
Premiere: Spielzeit 2020/2021