Hintergrund
Vergessen menschlich ist
Ein Rückblick auf das Tanzstück MEMORY LOSS (dt. Gedächtnisverlust) der niederländischen
Choreografin Ann Van den Broek und auf die begleitende Themenwoche zu Demenz am Theater
Freiburg Ende Januar 2020.

Natürlich beherrscht momentan das Corona-Virus die Welt und die Medien, doch eine ganz bestimmte Krankheit ist und bleibt ebenfalls ein großer Teil unserer alternden Gesellschaft: die Zahl der Demenzkranken in Europa wird sich bis zum Jahr 2050 verdoppelt haben (siehe ZEIT vom 21.02.2020). In Deutschland wurden 2018 über eineinhalb Millionen demente Menschen gezählt. Demenz (von Lateinisch demens „ohne Verstand“) ist eine unheilbare Gehirnerkrankung und wird HÄUFIG bei Menschen ab Anfang 60 diagnostiziert. Sie beeinträchtigt nicht nur die geistigen, intellektuellen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten der Erkrankten, sondern auch das Leben ihrer Nahestehenden und Angehörigen.

Die Mutter der flämischen Choreografin Ann Van den Broek erkrankte an Demenz und erlag dieser schlussendlich. Durch diese persönliche Betroffenheit und Nähe zum Thema wuchs der Ansporn, sich intensiv damit auseinanderzusetzen und so erarbeitete sie zusammen mit zahlreichen Performenden aus verschiedenen Disziplinen insgesamt drei Stücke. Die MEMORY LOSS COLLECTION besteht aus dem Tanzstück BLUEPRINT ON MEMORY (2018), der Installation und Performance ZOOMING IN ON LOSS (2019) und der interdisziplinären Arbeit MEMORY LOSS (2020). Dabei ist der letzte Teil eine Kombination der ersten beiden, sozusagen das Gesamtkunstwerk, das am 25. Januar am Theater Freiburg als Deutschlandpremiere zu sehen war. Ann Van den Broek stellte eine Bedingung: Um MEMORY LOSS in Freiburg zu zeigen, darf es keinesfalls alleine stehen, sondern muss thematisch gerahmt werden. Das Thema gehöre in die Gesellschaft. Die Tanzsparte nahm dies an und stellte eine vielfältige Programmwoche über Demenz zusammen. Doch dazu später mehr.

Ann Van den Broek schuf ein künstlerisch diverses Triptychon, das sich nicht nur tänzerisch-schauspielerisch, sondern auch musikalisch, installativ und medizinisch-informativ mit dem Vergessen beschäftigt. Choreografisch werden die sich oftmals wiederholenden Bewegungen der Demenzkranken aufgenommen. Beispielsweise zieht sich einer der Tänzer immer wieder seine Hose runter, die ein anderer ihm ebenfalls in Dauerschleife hochzieht. Oder eine Haarwaschszene wird so oft gespielt, bis sie irgendwann einen bedrohlichen Charakter erhält. Begleitet werden diese Situationen von Klängen, die die Performenden auf der Bühne selbst elektronisch erzeugen und dazu einfache und eingängige Verse auf Englisch singen („It is real, it is happening“). Die Publikumssituation ist ungewöhnlich, denn die Zuschauenden sitzen nicht nur im Saal, sondern auch direkt auf der Bühne – um vier rechteckige Metallgerüste, die diagonal zueinander positioniert sind und, die als Portale in Vergangenes verstanden werden können. In der Mitte dieses Gerüsts stehen zwei Tische; Ann Van den Broek sitzt an einem Ende, vor ihr steht eine Videokamera. Ihr gegenüber nehmen immer wieder die Performenden Platz, blicken in die Kamera und werden auf eine große Leinwand über dem Tisch projiziert. Die Emotionen, durch die die Betroffenen gehen, traurig und teils verzweifelt, sind somit für alle deutlich sicht- und nachvollziehbar.

Die Kranken vergessen und die Pflegenden werden oftmals vergessen. Deswegen wurde die Themenwoche zu Demenz auch mit einem Abend eröffnet, an dem Pflegende (Angehörige) im Mittelpunkt standen. Zwei professionelle Pflegende und vier (Ehe-)Frauen gaben Einblick in ihren Alltag und erzählten offen und ehrlich aus ihren teils anstrengenden Leben. Wie sehr sie sich teilweise selbst verlieren und ihren Tagesablauf auf den anderen Menschen abstimmen müssen, ist das größte Problem der Ehefrauen. Die professionellen Pflegenden berichteten beispielsweise von skurrilen Situationen, in denen sie von den Demenzkranken für Familienmitglieder gehalten wurden und der Harmonie wegen mitspielten. Abgrenzung ist die oftmals so schwer umzusetzende doch einzig richtige Lösung.

In seinem Roman DER VERGESSLICHE RIESE beschreibt der Autor David Wagner die Erfahrungen mit seinem eigenen Vater, der an Demenz erkrankte und Situationen, in denen sich Positionen verschieben: Der Sohn kümmert sich nun um den erwachsenen Vater. Bei einer Lesung ließ er das Publikum an diesen (literarischen) Erlebnissen teilhaben. Auch Boris Nikitin lud das Publikum mit seinem Solostück VERSUCH ÜBER DAS STERBEN ein, sich emotional mit einem Thema zu beschäftigen, das bei unheilbar Kranken ebenso vorkommt: Der Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben. Was geschieht mit der Familie, mit der Umgebung, mit der Kommunikation, wenn der Vater aufgrund seiner ALS-Erkrankung (unheilbare Erkrankung des motorischen Nervensystems) nicht mehr leben will? Und ist es nicht unglaublich wichtig, diesen Wunsch zu äußern und sich somit in eventuell recht ungemütliche Diskussionen und Situationen zu begeben? Schließlich ist der erwachsene Mensch autonom und für sich selbst und sein Leben verantwortlich.

Was bei einer Demenz medizinisch-biologisch genau im Gehirn geschieht, präsentierte das Zentrum für Geriatrie und Gerontologie der Uniklinik Freiburg bei einem Symposium mit vier detaillierten Vorträgen renommierter Forscher. Die Quintessenz: Das Gehirn funktioniert nicht mehr so, wie es soll und das wird es auch nie mehr. Kinder lernen die Welt erst kennen, Demenzkranke kennen sie bereits, doch der Zugriff auf den erlernten und abgespeicherten Umgang mit ihr ist erschwert oder ganz blockiert. Demenzkranke dürfen keinesfalls wie Kinder behandelt werden. Doch in dieses Verhaltensmuster verfällt man ziemlich schnell und leicht, denn Menschen mit Demenz müssen ständig betreut werden, um ihren Alltag stemmen zu können. Anziehen, Kochen, Essen, Waschen werden zu großen Herausforderungen. Wie sich das anfühlt konnte mithilfe von Hands-on Dementia, einem Selbsterfahrungsparcours, spielerisch ausprobiert werden. An verschiedenen Situationen wurde das Gedächtnis mit Merkspielen auf die Probe gestellt oder das Schließen einer Knopfleiste durch das Tragen von Handschuhen erschwert. Den Parcours entwickelte Leon Maluck, dessen Großmutter an Demenz erkrankte. Wie bei Ann Van den Broek motivierte ihn die persönliche Betroffenheit das Thema in die Öffentlichkeit und Gesellschaft zu tragen. Der Parcours war eine der bestbesuchten Veranstaltungen der Themenwoche; sie hatte sich rumgesprochen und war im Bewusstsein der Freiburger_innen angekommen.

Demenzkranke müssen weiterhin in die Gesellschaft integriert und für sie besondere Formate geschaffen werden, sagte Sylvia Kern. Die ehemalige Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg war Gast bei einer offenen und öffentlichen Diskussion im Theater Freiburg, in der erörtert werden sollte, was Kulturinstitutionen überhaupt für Menschen mit Demenz leisten und anbieten können. Ganz wichtig seien Empathie und viel Improvisation, denn nichts verläuft nach Plan wenn es ums Vergessen geht. Am einfachsten und schnellsten umzusetzen sei beispielsweise ein kurzer, konzentrierter und betreuter Probenbesuch. So können sie weiterhin an Kunst und Kultur teilhaben und ein Theater laufe nicht Gefahr, dass eine no­rmale Aufführung gestört wird. Das Theater ist immer noch ein elitärer Ort, der weitestgehend ruhige und beherrschte Normen zelebriert – auf und abseits der Bühne. Das Theater ist allerdings auch ein öffentlicher Ort, der informieren, reflektieren und Zugänge zu schwierigen Themen schaffen kann. Die Themenwoche zu Demenz kann als Ausgangspunkt für Weiteres gesehen werden. Doch dazu müssen wir etwas tun und dürfen nicht vergessen. Das Vergessen ist menschlich und der Umgang sollte es auch sein.

Sich mit Demenz zu beschäftigen ist wichtig, denn dieser Krankheit können wir nicht entgehen. Ann Van den Broek hat dies getan und so nicht nur ausdrücklich ihrer Mutter ein Denkmal gesetzt, sondern allen, die in irgendeiner Form mit dieser Krankheit in Berührung gekommen sind oder es irgendwann werden.

Fotos: Rio Staelens