Hintergrund

Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó gehört sowohl mit seinen Spielfilmen als auch seinen Musik- und Sprechtheaterinszenierungen zu den aufregendsten Theaterkünstlern Europas und preisgekrönten Stammgästen auf Festivals in aller Welt. In einer Mischung aus Solidarität und Abenteuerlust hat er zu unserer großen Freude kurzentschlossen zugesagt, Kurt Weills 1933 entstandenes Meisterwerk DIE SIEBEN TODSÜNDEN als außergewöhnlichen Musiktheaterabend in Corona-Zeiten am Theater Freiburg zu inszenieren.

Als Kornél Mundruczó 2012 zum ersten Mal zu uns ans Theater Oberhausen kam, um eine Inszenierung vorzubereiten, entsprach die vom Strukturwandel gezeichnete ehemalige Industriestadt so gar nicht seinem Deutschlandbild: Er fühlte sich eher an Ostungarn währende des Sozialismus erinnert … Anstatt also wie geplant einen klassischen Stoff zu adaptieren, ließ er sich auf die Stadt ein und erfand für Oberhausen die „proletarische Operette für das 21. Jahrhundert“ SCHÖNE TAGE als wild-wüste Europa-Dystopie mit Außenseitern, Aliens und Musicalelementen.

Das Eis (Foto: Mátyás ERDÉLY/Proton Theater)

Diese außergewöhnliche Mischung aus szenischem Hyperrealismus, lässig-ironisch zitierter B-Picture-Ästhetik und politischer Reflektion ist exemplarisch für seine früheren Arbeiten, sowohl mit seiner ungarischen Produktionsfirma Proton Theater als auch an großen deutschsprachigen Bühnen wie dem Thalia Theater Hamburg. Seinem Publikum bietet er immer sehr viel, denn Mundruczó ist ein guter und großzügiger Erzähler mit scharfem Bewusstsein für gesellschaftliche Realitäten, der scheinbar unvereinbare Themen, Geschichten und Stilmittel miteinander verknüpft. Neben der zentralen Handlung enthalten alle seine Arbeiten noch andere, verborgene Geschichten – ein erzählerischer Reichtum, der es ihm ermöglicht, sein Publikum bestens zu unterhalten und dabei zum Fragen, Denken und Diskutieren anzuregen.

In seiner Musiktheaterinszenierung 2014 an der Vlaamse Opera in Antwerpen kombinierte er Béla Bartóks HERZOG BLAUBARTS BURG und Franz Schuberts WINTERREISE zu einer gleichermaßen poetischen wie politischen Reflektion über heimatlose, entwurzelte Menschen. Sein „Blaubart“ erschien in Gestalt und Maske des ersten Hollywood-Draculas Bela Lugosi, der als gefeierter Budapester Bühnenstar aus politischen Gründen nach dem 1. Weltkrieg Ungarn verlassen musste und nie wieder in seine Heimat zurückkehren konnte. Márton Ághs Bühnenbild, die detailgetreue Rekonstruktion von Draculas Schloss aus dem Hollywoodfilm von 1931, löst sich im Lauf der Handlung von Bartóks Kurzoper immer mehr in einen fragmentierten, surrealen Raum auf, wird etwa zu einem Aquarium, durch das riesige Zierfische schwimmen/schweben. Diese Wandlung vom Hyperrealismus zu einem „magischen Realismus“ kennzeichnet Mundruczós künstlerische Entwicklung der letzten Jahre. Der Bariton von Schuberts WINTERREISE ist ein Gestrandeter an einer wiederum sehr real gestalteten Grenzstation, gefangen im Niemandsland, im Hintergrund Flüchtlingsbaracken, auf die Videos von ungarischen Auffanglagern projiziert werden. Bereits drei Jahre vor der „Flüchtlingskrise“ im Sommer 2015 thematisierte Mundruczó in seiner sinnlich opulenten und scharfsinnig politischen Inszenierung die Situation Geflüchteter in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft.

Frankenstein-Projekt (Foto: Mátyás ERDÉLY/Proton Theater)

Politisches Theater besteht für Mundruczó darin, sehr reale Menschen zu schildern, die unter den Auswirkungen sehr realer Politik leben und leiden. Kunst, die mehr Ideologie und Meinung als Kunst ist, Agitprop oder die bekenntnishafte Bestätigung eines liberalen-bürgerlichen Publikums interessieren ihn nicht. Sein Augenmerk gilt meist den Außenseitern der Gesellschaft. Bisweilen sind seine Abende harte Kost, etwa die 2010 zu Theater der Welt eingeladene Proton-Produktion ES IST NICHT LEICHT, EIN GOTT ZU SEIN, in der es um Menschenhandel, Zwangsprostitution, Folter, Psychoterror und Mord ging. In den letzten Jahren hat sich der scheinbar emotionslose, nüchterne Erzählton aber zu einem von Empathie geprägten Blick auf seine Figuren gewandelt.

Imitation of life (Foto: Marcell RÉV/Proton Theater)

So auch in seiner 2016 entstandenen Proton-Produktion IMITATION OF LIFE, für die Mundruczó und die Autorin Kata Wéber, mit der er meist zusammenarbeitet, ebenfalls zwei eigenständige Geschichten zusammenfügten. Für diese Studie über Identitäten und Realitäten in einem zunehmend extremistischen Europa war Mundruczó im gleichen Jahr für den Deutschen Theaterpreis Der Faust als bester Regisseur nominiert. Eine alte Frau, Angehörige der Minderheit der Roma, soll aus ihrer vollgestopften, bis ins kleinste Detail nachgestalteten Budapester Altstadtwohnung vertrieben werden. Als sie von ihrem verlorenen Sohn erzählt, der seine Herkunft als Rom verleugnet, und plötzlich einen Herzanfall bekommt, versucht der Vertreter der Immobilienfirma in einem Anflug von Mitgefühl einen Notarzt herbeizurufen. Dieser will sich nur für „richtige“ Ungarn beeilen; die alte Frau bleibt allein zurück. Plötzlich bricht ein Gewitter los und dann kommt es zu einem atemberaubenden, magischen Moment, als sich das gesamte Bühnenbild langsam über mehrere Minuten um 360 Grad dreht und alles, was nicht niet- und nagelfest ist, zu Boden fällt – von Schrauben und Nägeln bis zu einer massiven Waschmaschine. Ein eindrucksvolles Bild für ein Leben, das zerstört wird, für eine Welt, die aus den Fugen ist. In die noch derangierte Wohnung der Verstorbenen zieht nun eine junge Frau ein, die vor ihrem gewalttätigen Partner geflohen ist und vor der Hausverwaltung verheimlichen muss, dass ihr kleiner Sohn bei ihr wohnen wird – Kinder sind nicht gestattet. Mundruczó erzählt zwei einfache, alltägliche Geschichten, die aber eindringlich und beiläufig zugleich gesellschaftliche Probleme wie Rassismus, Ausgrenzung, Wohnungsnot und häusliche Gewalt thematisieren, und verbindet sie mit einem spektakulären, inhaltlich treffenden Theaterzauber.

Freuen Sie sich also mit uns auf Kornél Mundruczós neueste Inszenierung DIE SIEBEN TODSÜNDEN von Kurt Weill und Bertolt Brecht am Theater Freiburg!

Peter Carp, Rüdiger Bering