Bei den Pforten der Hölle
Ein Filmdreh für „der Freischütz“
Die Wolfsschlucht liegt nicht weit von Oberried; das Filmteam fährt mit dem Auto dorthin. Im Kofferraum die Zutaten für Freikugeln: Blei, etwas Glas von zerbrochenen Kirchenfenstern, Quecksilber, drei Kugeln, die schon einmal getroffen haben, das rechte Auge eines Wiedehopfes und das linke eines Luchses. Außerdem Taschenlampen, Perücken, Seile, Verlängerungskabel und einen Vollmond. Was man eben so braucht für einen Filmdreh in der Wolfsschlucht. Irgendwann in der nächsten Spielzeit, wenn die Umstände es zulassen, wird sich die Wolfsschlucht auf der Bühne des Theaters Freiburg befinden. Der von Ängsten geplagte Jäger Max wird sich in der Nacht vor seinem Probeschuss auf den Weg machen, um jene Gewehrkugeln zu gießen, die immer das gewünschte Ziel treffen. Nur die siebte nicht, über die bestimmt der Teufel, der die zielsicheren Kugeln überhaupt erst möglich macht. „Ich bin vertraut mit jenem Grausen, das Mitternacht im Walde webt“, behauptet Max zuvor tapfer, aber auf das, was ihm in der Wolfsschlucht begegnet, ist er nicht vorbereitet: Grauenhafte Erscheinungen dringen auf ihn ein, verzerrte Echos seiner Lebenswelt und Natur gewordene Bilder seiner Ängste. In der Wolfsschlucht, heißt es im Libretto, öffnen sich um Mitternacht die Pforten der Hölle.
Als das Team die Zutaten auspackt, wirkt der Schwarzwald allerdings noch ganz idyllisch. Moose und ein paar zu früh erwachte Knospen machen die Natur auch im Februar grün. Statt einer furchterregenden Schlucht bildet nur ein kleiner Hang die Kulisse, ein Bach plätschert. Bühnenbildnerin Antonia Kamp hängt den Vollmond zwischen zwei Äste, verkabelt ihn und knipst ihn an. Mit einsetzender Dämmerung zeigen sich beeindruckende Schlagschatten der hohen Fichten. Die Performer experimentieren mit Taschenlampen. Es wird kühl.
Die Wolfsschlucht-Szene ist eine Herausforderung für jede Inszenierung des „Freischütz“ – bereits bei der Uraufführung 1821 wurde alles in Bewegung gesetzt, was die Theatermaschinen hergaben. Für die neue Freiburger Produktion stellen sich gleich vier Regisseure gemeinsam dieser Herausforderung: Nikola Duric, Thorsten Eibeler, Dariusz Kostyra und Veit Sprenger sind das Performancekollektiv Showcase Beat le Mot, das in Freiburg bereits „Der Teufel mit den drei Goldenen Haaren“ auf die Bühne gebracht hat. Nun folgt die schauerromantische Oper „Der Freischütz“ mit ihrem besonderen Bezug zum Wald. Schon länger beschäftigt sich Showcase Beat le Mot künstlerisch mit dem Wald als historischem Ort, als Projektionsfläche von Utopien und Ängsten und als Inbegriff von Natur. Beim heutigen Filmdreh für den „Freischütz“ soll Videomaterial entstehen, das das Bühnenbild erweitert und lebendig werden lässt – natürlich im Wald.
Auch die Arbeitsweise in diesem Kollektiv lässt sich botanisch beschreiben: Gedanken, Ideen und Vorstellungen wachsen an unterschiedlichen Stellen hervor, bilden unabhängige oder verhakte Strukturen, stützen sich gegenseitig oder nehmen einander das Licht. Vier Regisseure gemeinsam produzieren nicht eine geschlossene Sicht auf die Oper, aber auch nicht vier komplett unterschiedliche. Und dann sind da auch noch die Sängerinnen und Sänger, der Dirigent Ektoras Tartanis und die vielen anderen Mitwirkenden, die ihre Interpretations-Sprösslinge auswerfen. Eine Opernaufführung kann sich wie ein Wald organisieren.
Videokünstler Joscha Eckert beginnt zu filmen, und die vier Performer sind sofort in ihrem Element. Sie tragen leuchtende Objekte durch den Wald, schmiegen sich an Bäume und werfen Mehl in die Luft, um Nebel zu zaubern. Jemand tritt versehentlich in einen Bach. Einige blödeln herum: „Wenn wir später zurück zum Auto gehen, ist das bestimmt verschwunden und wir müssen hier übernachten. Und dann wird alles wahr, was wir uns ausgedacht haben.“ Schnell werden die Plots diverser Horrorfilme lebendig: „Eine kleine Gruppe von uns geht los, um Hilfe zu holen, kommt aber nicht wieder. Eine zweite Gruppe findet nur noch verstreute Leichenteile und sieht glühende Augen auf sich zukommen…“ Horrorfilme sind ein häufiger Bezugspunkt der Regisseure bei der Arbeit am „Freischütz“.
Zum Glück ist das Material noch vor Mitternacht im Kasten, und das Auto steht auch noch da. Das Team verstaut Mond, Blei, Tieraugen und Quecksilber wieder im Kofferraum und macht sich auf den Rückweg, bevor sich doch noch die Pforten der Hölle öffnen. Und für die zuckenden Schatten im Rückspiegel gibt es bestimmt eine ganz natürliche Erklärung.
Text und Fotos: Ann-Christine Mecke